Rollkur

Artikel von Erich Metterlein

Seit Jahren wird kaum ein Thema so intensiv diskutiert wie das Thema Rollkur. Um genau zu sein, war es im Jahr 2005, als die Zeitschrift St. Georg das Thema (erneut) behandelte und damit eine breite Diskussion in Gang gesetzt hat. Was war passiert? Mit Anke van Grunsven war eine Reiterin aus den Niederlanden äußerst erfolgreich. 2004 gewann sie mit Salinero die Goldmedaille bei den olympischen Spielen in Athen. Ihre Trainingsmethode, die Rollkur, war zwar nicht neu, wurde aber mit der Konsequenz, zumindest in der Öffentlichkeit, bis dahin nicht gezeigt. Angewandt aber wurde sie von allen Reitern und Reiterinnen, auch von den deutschen. Und natürlich nicht erst seit 2004. Schon 1992 erschien ein Artikel von Professor Heinz Meyer zum Thema extrem tiefe Einstellung beim Training von Dressurpferden in St. Georg. Der Beitrag wurde illustriert mit einem Foto des zweifachen Olympiasiegers Rembrandt mit aufgerolltem Hals.

Nicole Uphoff mit Rembrandt!
Nicole Uphoff mit Rembrandt!

Übrigens, zum System erhoben wurde die „Rollkur“ zum ersten Mal durch Paul Plinzner, Leibstallmeister von Kaiser Wilhelm II und Schüler Steinbrechts, schon ab etwa 1852. Für Plinzner stand der absolute Gehorsam des Pferdes im Mittelpunkt seiner Arbeit. Und auch damals schon gab es Probleme mit der Namensgebung: Die Begriffe „Tiefzäumung“, „Hankenarbeit in absoluter Einstellung“, „unbedingte Einstellung am Zügel“, „absolute Einstellung am Sporn“ … meinen alle das Gleiche (siehe unten).

Mit dem Sieg von Anke van Grunsven war eine Trainingsmethode etabliert, die einzig den (blinden) Gehorsam des Pferdes zum Ziel hat. Propagiert und theoretisch verbrämt wurde sie von ihrem Trainer und Ehemann Sjeff Janssen. Das (Fluchttier) Pferd wird in eine Position gezwungen, in der es maximal noch die eigenen Füße sehen kann (Maul bis zur Brust) und in der der Gleichgewichtssinn sehr stark eingeschränkt ist. Gleichzeitig ist die Oberlinie überdehnt, was zu einer unnatürlichen Aufwölbung des Rückens führt. Der Rücken ist in dieser Position „festgestellt“, die Hinterbeine sind steif und treten „in die Erde“ statt vorwärts. Es entsteht ein enormer Druck auf das Maul des Pferdes. Die Atmung wird durch die Verengung der Atmungswege stark eingeschränkt. Zwingt man ein Pferd in dieser Position durch den Einsatz der Sporen vorwärts zu gehen, so ist es gänzlich dem Reiter ausgeliefert. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und weil Menschen erfinderisch sind kann man dabei auch noch den Hals des Pferdes seitlich biegen, was die Hilflosigkeit noch mal verstärkt. Man kann das Pferd über Stangen gehen oder piaffieren oder passagieren lassen. Wie gesagt, Menschen sind erfinderisch – vor allem, wenn sie unter Erfolgszwang stehen und der Erfolg vom absoluten Gehorsam des Pferdes abhängt.

Das was hier vorgeführt wird, ist die „erlernte Hilflosigkeit“ (Learned Helplessness). Was immer ein Lebewesen auch tut, es wird bestraft, Flucht ist unmöglich. Es gibt keinen Ausweg – das Lebewesen hört auf sich überhaupt zu wehren, egal was kommt.

Rollkur ist Tierquälerei und Tierquälerei ist verboten – möchte man meinen. Weit gefehlt! Christoph Hess, Ausbildungsleiter der Deutschen Reiterlichen Vereinigung, schlägt nach der Veröffentlichung in St. Georg, wie könnte es anders sein, erst einmal einen „kleinen“ Arbeitskreis vor: „Es sollen die erforderlichen wissenschaftliche Fragestellungen aus Sicht der funktionellen Anatomie, der Biomechanik und der Ethologie, also der Entwicklungsgeschichte des Pferdes, erarbeitet und bereits vorhandenes Material gesichtet werden.“ Schon erstaunlich, was man an Fragen so alles klären muss, bevor man aktiv wird, denn: „Dabei gibt es zwei Aspekte. Einmal die physiologische: Was ist eigentlich zu eng? Wann wird ein Pferd durch einen zu engen Hals in seinen natürlichen Bewegungsmöglichkeiten behindert? Dazu kommt der psychologische Aspekt: Wann fängt der Reiter an, ein Pferd mental zu traktieren? Man darf einem Pferd auf keinen Fall seine Persönlichkeit nehmen.“ Tja, da gibt es schon einiges zu klären.

Auch in der Wiener Hofreitschule wird gerollt!

Dieser „kleine“ Arbeitskreis sollte nach Christoph Hess dann in einen „großen“ Arbeitskreis münden, in dem die Vertreter der großen Dressurnationen vertreten wären.

So weit der tatkräftige Vorschlag von Christoph Hess, aus dem (natürlich) nie etwas wurde. Im Januar 2006 dann gab es einen FEI (Internationale Reiterliche Vereinigung) – Workshop zu diesem Thema. Ergebnis: Eine Schädigung des Pferdes durch die Rollkur war aus tierärztlicher Sicht nicht nachzuweisen. Weshalb auch der negativ besetzte Begriff Rollkur durch den (neutralen) Begriff Hyperflexion ersetzt wurde. Die Rollkur als Ausbildungsmittel war jetzt offiziell anerkannt. Die Frage, ob ein Pferd durch diese Methode gequält wird, stand ohnehin nie zur Debatte.

Um was geht es also? Es geht ausschließlich um die Funktionalität des Pferdes. Solange das Pferd funktioniert , ist die Welt in Ordnung. Wie man es zum „funktionieren“ bringt, ist Nebensache.

Vor diesem Hintergrund sind auch die Aussagen von Patrick Kittel, einem schwedischen Dressurreiter, zu sehen. Patrick Kittel war 2009 von der dänischen Epona TV auf dem Abreiteplatz (in aller Öffentlichkeit) vor einem internationalen Wettbewerb gefilmt worden. Nach Aussage von Epona TV hat Kittel sein Pferd zwei Stunden in Rollkurmanier „vorbereitet“. Dabei hat sein Pferd auch die dunkelblau angelaufene Zunge aus dem Maul hängen lassen. Kittel kannte das offensichtlich schon, denn vom Sattel aus stopfte er die Zunge in das Maul zurück und „arbeitete“ weiter. Wer mag, kann sich das Video anschauen.

Seine Verteidigung: „In einer Stellungnahme auf seiner Internetseite, wehrt sich Kittel nun gegen die Vorwürfe. Er habe sein Pferd nicht zwei Stunden am Stück so geritten, sondern immer wieder Schrittpausen am langen Zügel eingelegt. Die Hyperflexion sei nicht verboten, argumentiert er weiter. Und: „Über tiefes Einstellen eines Pferdes bei der Arbeit kann man unterschiedlicher Meinung sein. Man darf aber nicht aus den Augen verlieren, dass die meisten erfolgreichen Reiter in der Weltspitze ihre Pferde so arbeiten. Wie die meisten Reiter vertraue ich meinem Trainer. Dessen Methode auf tiefe Einstellung zu reduzieren ist falsch.“ Und schließlich schlussfolgert er: „Das Epona TV Video zeigt bei Scandic jedenfalls keine erkennbaren Anzeichen von Unwohlsein.“ […] „Ich liebe meine Pferde und würde nie auf die Idee kommen, sie zu quälen. Warum sollte ich das auch tun? Mit Zwang kann man kein Pferd zu solchen herausragenden Ergebnissen führen.““ (Diese Zitate habe ich den Dressurstudien entnommen)

Und genau diese „Einstellung“ ist aus meiner Sicht die eigentliche Sauerei. Dem Wettbewerb wird alles ohne jegliche Skrupel untergeordnet. Als Rechtfertigung müssen immer die gleichen Argumente herhalten: Erstens ist es nicht verboten, zweitens machen es alle, drittens ist alles nur Meinung, viertens vertraut man dem Trainer und hat deshalb selbst keine Verantwortung, viertens wird man eh falsch verstanden, fünftens ist das Pferd offensichtlich zufrieden und sechstens, schließlich liebe man sein Pferd. Und wer sein Pferd liebt, der quält es nicht. Oder?

Natürlich bin ich für ein Verbot der Rollkur. Und es wäre schon etwas gewonnen, wenn sie wenigstens in der Öffentlichkeit nicht mehr erlaubt wäre. Mehr kann man über ein Verbot nicht erreichen. Und natürlich wird die Rollkur weiter praktiziert werden. Ob mit oder ohne Verbot. Sie wird inzwischen längst von „Durchschnittsreitern“ praktiziert. Selbst wenn sie keine Turnier-Ambitionen haben. Empörung ist selten. Die Sehgewohnheiten haben sich eben verändert.

Wie sehr sich Meinungen und Grundsätze ändern, zeigt die DVD „Klassisch contra Classique“ aus dem Jahr 2007: Wird in der „Deutschen Reitlehre“ bzw. den „Richtlinien“ noch dargelegt, dass ein Pferd, das hinter der Senkrechten geht, dies deshalb tut, weil „entweder ein momentaner Fehler in der Hilfengebung oder ein deutlicher Fehler in der bisherigen Ausbildung“ vorliegt, so hält Christoph Hess (Ausbildungsleiter der FN) dies 2007 für nicht mehr wesentlich. So reitet eine Schülerin von ihm ein Pferd mit sehr guten Gängen während der gesamten Vorführung deutlich hinter der Senkrechten. Was Christoph Hess veranlasst ständig zu betonen, dass dies tolerierbar sei, so lange das Pferd den Zügel suche. Wo bitte sucht das Pferd den Zügel? Und wie bitte kommt das Pferd hinter die Senkrechte? Und auf den Einwand, dass das in einer Prüfung einen Punktabzug bedeuten würde, gibt er zur Antwort, dass das jetzt ja eigentlich ein Training sei. Zur Prüfung würde die Reiterin schon wissen, was sie tun muss, damit das Pferd diesen Fehler nicht zeigt. So einfach ist das.

Anders ausgedrückt, es ist allgemein eine Bereitschaft zu erkennen, bisherige Normen über Bord zu werfen. Die Konkurrenz ist groß und Pferde halten eine Menge aus.

Doch zurück zur FEI. Anfang Februar 2010 stand die Hyperflexion erneut auf der Tagesordnung. Und das Ergebnis: Aus der „Hyperflexion“ wird „Low-Deep-Round“. „Zudem wurde der Begriff Rollkur/Hyperflexion neu definiert: Als eine Flexion des Halses, die immer mit aggressiven Methoden durchgeführt werden würde. Dies sei, so die Experten der FEI, nicht zu akzeptieren und damit fortan auch nicht mehr erlaubt. Erlaubt hingegen ist das Low-Deep-Round, diese Technik sei ein Flexionieren des Pferdehalses, welches ohne übermäßige Gewalt durchgeführt werde.“ (Dressur Studien)

Nur blöd, dass dieser Begriff bereits von Sjeff Janssen, dem o. g. Trainer und Ehemann von Anke van Grunsven, propagiert wurde. Es bleibt abzuwarten, wie die FEI den Begriff „übermäßige Gewalt“ definiert. Denn freiwillig geht kein Pferd in Rollkurmanier.

Übrigens war von deutscher Seite Gerd Heuschmann bei der Tagung der FEI. Sein Kommentar: „Das war keine Alibi-Veranstaltung, sondern eine ambitionierte Auseinandersetzung. Trotz der Heterogenität der Teilnehmer – die Vertreter unterschiedlicher Reitdisziplinen waren anwesend – haben wir wirklich etwas erreicht

Als tolerierbar haben wir die LDR-Methode definiert. Bei ihr gehen wir davon aus, dass ein Pferd tatsächlich tief eingestellt gehen kann – aber nur, wenn dies ohne Zwang geschieht. Ich persönlich finde nicht, dass dies die richtige Basis für eine Dressurausbildung ist, aber für uns steht der tierschutzrechtliche Aspekt im Vordergrund.“

Was soll ich davon halten? Hat Herr Heuschmann schon mal ein Pferd gesehen, dass nach der LDR-Methode freiwillig über die Koppel läuft? Aber ich gebe zu, ich habe schon lange eine gewisse Skepsis gegenüber Herrn Heuschmann.

Wollte man wirklich etwas ändern, so müsste sich die FN wesentlich deutlicher nicht nur von der Rollkur, sondern von allen Praktiken distanzieren, die lediglich dem Wettbewerbsvorteil auf Kosten der Pferde dienen. Nationale „Alleingänge“ sind durchaus erwünscht. Die Ausbildung der Reitlehrer, die Einstellung der Bereiter zu ihren Pferden, die Schulung der Richter, die Ausrichtung der Turniere, die Benotungen müsste zum Thema gemacht werden. Und dann? Dann könnte man die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Reiter vergessen. Will das die FN? Bestimmt nicht. Der Erfolg der FN hängt auch am Erfolg der deutschen Reiter. Es gibt inzwischen eine „Industrie“ der Vermarktung für das deutsche Sportpferd, zusammen mit der deutschen Reitlehre und dem Verweis auf die internationalen Erfolge. Diese Erfolge sind die Grundlage für die Vermarktung. Das deutsche Sportpferd ist das am besten „durchgezüchtete“ Pferd. Selbst deutlich hinter der Senkrechten geritten, zeigen Pferde heute ausgezeichnete Gänge. Mögen die Gänge auch nicht taktrein sein, spektakulär sind sie allemal. Und das reicht für viele Richter.

Beim Westernreiten nicht weniger!

Und darin liegt eine weitere Ursache für bestehende und künftige Problemstellungen zu Lasten der Pferde: Die „Qualität“ von Spitzenpferden und Durchschnittspferden unterscheidet sich immer stärker. Und leztlich sind diese ganggewaltigen Spitzenpferde das Maß der Dinge, auch für die Ausbildungsgrundsätze. Es geht nicht um die Ausbildung und Förderung von Durchschnittspferden. Die werden entweder gänzlich überfordert, oder „fallen durch den Rost“.

Zum Schluß soll der oben erwähnte Paul Plinzner noch zu Wort kommen. Paul Plinzner hatte damals noch keine Probleme damit, sein Tun klar zu benennen. Er kritisiert ausdrücklich, dass „unklare Begriffe und mystische Vorstellungen sich wohl kaum auf einem Gebiete so sehr breitmachen, wie auf dem der Reitkunst.“ Recht hat er!

„Um nun die Einwirkungen des Reiters im Einzelnen bei der Arbeit des „aktiven Beizäumens“ zu besprechen, so ist es, wie erwähnt, die Hand, welche die Arbeit einleitet, indem sie anfasst und die Beizäumung fordert. Dass ein Anfassen mit der Hand, und zwar ein bestimmtes, frisches hineingreifen in das Pferd erforderlich ist, um eine Beizäumung zu erlangen, welche für das praktische Reiten von Wert ist, d. h. auf Nachgiebigkeit des Pferdes, nicht des Reiters beruht, liegt in der Natur der Sache“.

„Wenn es in der Arbeit des „aktiven Beizäumens“, namentlich wo es sich darum handelt, in falschen Formen veraltete Muskeln zubiegen und geschmeidig zu machen, Perioden gibt, wo der Reiter keinen Tag ohne Blut an den Sporen vom Pferde steigt, so muss es doch dahin kommen, dass schon die leiseste Berührung des Sporns das Pferd elektrisiert und bei richtiger Mitwirkung der Hand zur sofortigen Annahme der verlangten Stellung, sowie zur energischen Arbeit in derselben veranlasst.“

“ Wenn somit eine gewisses Quälen des Pferdes von dem „aktiven Beizäumen“ zunächst nicht zu trennen ist, so würde es doch ganz dem Wesen einer Belehrung widersprechen, wollte man dieses Quälen so auf die Spitze treiben, dass das Pferd sozusagen die Fähigkeit zum Nachdenken verliert, oder gar zur Verzweiflung getrieben wird. Es muss deshalb nicht nur der Grad und die Art und Weise des Quälens dem Temperament des Pferdes Rechnung tragen, sondern es müssen auch während desselben andeutungsweise kleine Pausen eintreten, in denen die starken und lebhaften Einwirkungen gemindert, ja sogar vielleicht eine Art entgegenkommender Nachgiebigkeit gezeigt wird.“

„Den Kommentar dazu überlasse ich Freiherr von Reischach, Oberstallmeister des Kaisers Wilhelm II und Nachfolger des Vorgesetzten von Paul Plinzner: „Aus dem Inhalt dieses Schreibens werden Euer Hochwohlgeboren entnehmen, dass ich nicht in der Lage bin, Ihnen eine ehrenerklärung über Ihr Reitsystem abzugeben, und dass ich dasselbe nach wie vor auf der ganzen Linie verurteile, dass ich die Arbeit für eine falsche halte, welche die Pferde kaputt macht.

Auch halte ich es für ausgeschlossen, dass ein Reiter auf einem auf diese Weise gearbeiteten Pferd auch nur einen Augenblick einen reiterlichen Genuss hat. […] Ich will die Pferde vor der Senkrechten, nicht dahinter. […] Wo sind die Pferde geblieben, die ich übernehmen musste, mit den zusammengezogenen Hälsen, deren Ohrenspitzen beinahe nach dem Erdboden zeigten, die nicht nach vorwärts traten, sondern sozusagen in die Erde hinein, mit dem hohen Rücken und den steifen Hinterbeinen, mit den tellergroßen, haarlosen, durch die Sporen zerfleischten Stellen? Sie sind beinahe alle ausrangiert!“

So weit zu Plinzner. Mehr über die Rollkur und die Diskussion um die Rollkur und andere Trainingsmethoden bei St. Georg oder in den Dressurstudien

Frieding, den 10. Mrz. 2010